Die Funktionale Selbstorganisation der Stimme in der Stimmig-sein-Methode
Hängt eine gute Stimme von einem angeborenen Talent ab?
Oft wird davon ausgegangen, dass eine schöne Stimme allein sogenannten “Talentierten” vorbehalten sei. Menschen, die schief singen oder nur einen geringen Tonhöhenumfang haben, werden in herkömmlichen Gesangsmethoden häufig von vorneherein aussortiert. Auch Sprechern (z.B. Rundfunksprechern) sagt man häufig eine angeborene Stimmfülle nach. Die Stimme ist zwar auch bedingt angeboren, sie ist aber sehr viel veränderbarer, als gemeinhin angenommen.
Tatsache ist aber, dass eine klangvolle und leistungsfähige Stimme über eine angeborene Selbstorganisationsfähigkeit des Körpers bzw. der Stimme prinzipiell allen Menschen zugänglich ist.
Die systemische Selbstorganisationsfähigkeit der Stimme über Obertongruppen
(Gesangsformanten):
Die Selbstregulation der Stimme wird über eine bewusste Hörweise ausgelöst:
Im menschlichen Ohr werden bestimmte Obertöne verstärkt: diese liegen bei 3000, 5000 und 8000 Hertz. Treten diese Obertöne in der eigenen Stimme im Klangspektrum lauter hervor (sogenannte Gesangsformanten), so klingt die Stimme sehr brillant, raumgreifend und tragfähig. Gleichzeitig führt das Hören dieser Gesangsformanten dazu, dass über einen neurologischen Weg die Abstimmung der Muskeln verbessert wird: Muskeln, die wir zum Singen und Sprechen brauchen, werden so rein über das Hören der Gesangsformanten besser koordiniert. Dies führt dazu, dass sich die vielen Muskeln, die an der Stimmgebung beteiligt sind (immerhin ca. 100 Muskeln!) miteinander harmonisieren können. Das Ergebnis ist ein müheloses und dennoch voluminöseres Sprechen und Singen und eine leistungsfähigere und flexiblere Stimme.
Die systemische Selbstorganisationsfähigkeit der Stimme über das Vibrato:
Auch das Vibrato hat diesen Effekt: das Vibrato ist eine angeborene Stimmschwankung um ca. 6 Hertz (Pulse pro Sekunde). Menschen, die ohne Vibrato singen, unterdrücken diesen für die Muskeln wichtigen Stimmrhythmus, indem sie die Stimmmuskulatur zu sehr anspannen, was zu Anstrengungsgefühlen oder bei intensivem Singen sogar zu organischen Stimmstörungen wie Sängerknötchen führen kann. Das Vibrato zuzulassen fördert wiederum über einen neurologischen Weg die bessere Koordination der Muskeln und es entspannt uns fühlbar. Auch verhilft das Vibrato der Stimme zu einer nie geahnten Leichtigkeit und einem großen Stimmvolumen.
Körperübungen in der Stimmarbeit:
Zusätzlich zu der Verbesserung der Hörwahrnehmung, wird am Abbau von Verspannungen gearbeitet, die – leider nicht selten – in anderen Stimmmodellen antrainiert wurden und der Stimme schaden: so braucht eine gute Stimme es nicht, „gestützt“ zu werden – meist pressen die Sänger die Luft mit der Bauchmuskulatur heraus, was die Stimmlippen zu sehr belastet. In manchen Methoden geht man auch davon aus, dass nur ein weit geöffneter Kiefer oder eine starke Artikulation zu einem guten Klang verhelfe – in Wirklichkeit macht eine starke Artikulation die Arbeit des Kehlkopfs über Muskelketten unflexibel.
Im funktionalen Gesangsunterricht bzw. in der Funktionalen Stimmbildung werden daher auch allgemeine Verspannungen (wieder) abgebaut, damit eine Grundlage für die Selbstorganisation der Stimme geschaffen werden kann. Wenn sich dann – unterstützt durch Hörwahrnehmungsübungen – in der Stimme die ersten Obertöne und das Vibrato entwickeln, können diese die Selbstorganisation der Stimme auslösen.
Psychointegrale Selbstorganisation der Stimme in der Stimmig-sein-Methode
Stimme und Emotionen
Doch die Stimme drückt auch Emotionen aus. Viele Redewendungen „singen eine Lied“ davon: man spricht vom „Kloß im Hals“ bei Angst, vom stimmig oder unstimmig sein, von Stimmungen oder von stimmungsvollen Anlässen. Manchmal bekommt man einen „Hals“ vor Wut oder es verschlägt einem in „tonlosem Entsetzen“ die Sprache. Dass Stimme und Psyche miteinander in einer engen Verbindung stehen, ist also eine Volksweisheit. In der Stimmig-sein- Methode® haben wir die Gründe für diese enge Beziehung zwischen Stimme und Psyche auch wissenschaftlich erforscht und die Erkenntnisse praktisch umgesetzt.
Warum sich die Psyche in der Stimme ausdrückt
Der Kehlkopf ist nicht nur ein Kommunikationsinstrument, sondern in erster Linie dazu da, die Luftröhre von der Speiseröhre zu trennen. So öffnet er sich, wenn wir atmen möchten und verschließt sich, wenn wir essen und trinken, damit wir uns nicht verschlucken – ein überlebenswichtiger Mechanismus. Diese physiologische Schutzfunktion macht sich aber auch psychisch bemerkbar: wenn wir uns bedroht fühlen, wird es ebenfalls eng in der Kehle: wir bekommen den typischen Kloß im Hals und die Stimme wird eng. Wenn wir wütend sind, reagiert unsere Stimme nicht viel anders, als wenn wir schon etwas „in den falschen Hals bekommen“ hätten, wir brüllen den Menschen mit genau denselben Muskeln an, die wir auch benötigen, wenn wir husten, um verschluckte Speisen und Flüssigkeiten wieder hinausbefördern. Wenn wir uns ohnmächtig fühlen, reagieren wir mit zu geringer Schutzfunktion: der Kehlkopf schließt zu wenig: die Stimme wird verhaucht oder sogar tonlos: uns geht die Luft aus, wir stehen sprachlos und tonlos da.
Fühlen wir uns jedoch selbstbestimmt und haben das Gefühl, im Einklang mit unseren Bedürfnissen handeln zu können (was wir in der Stimmig-sein- Methode® als „Eigenmacht“ bezeichnen), so öffnet sich die Stimme, wird raumgreifend, strahlend (brillant) und klar.
Wie werden diese Erkenntnisse in der Stimmig-sein- Methode® umgesetzt?
Diese Zusammenhänge macht sich die Stimmig-sein- Methode® zunutze, indem man über das bewusste Hören des Stimmklangs eine bessere Wahrnehmung für die eigenen Bedürfnisse und Gefühle entwickelt und so die “innere Stimme” stimmlich wie psychisch befreien kann. Sie lernen also über die Stimme, herauszufinden, was Sie wirklich fühlen. Vielfach denken wir, über unsere Gefühle Bescheid zu wissen. Der Stimmklang gibt dann eine überaus präzise Rückmeldung, ob wir mit unserer Wahrnehmung richtig liegen oder nicht. So kann diese psychointegrale Arbeit der Stimmig-sein- Methode® ein reines Gespräch gut ergänzen, gerade dann, wenn man ein „Kopfmensch“ ist.
Stimme als Wegweiser
Die Stimme kann daher zum Wegweiser werden: vorgestellte Lösungen, die gemeinsam im Gespräch herausgearbeitet werden, werden dem „Stimmtest“ unterzogen: sind die Lösungen stimmig oder nicht? Dieses therapeutische Mittel nennen wir „Klangstellen“. Übrigens kann diese Methode sowohl einzeln als auch als Paar hervorragend eingesetzt werden. Angst davor, nicht richtig mit der Stimme umgehen zu können, müssen Sie nicht haben, denn Musikalität ist nicht erforderlich, lediglich die Lust, sich auf diese erlebnisaktivierende Art der Klang-Körperarbeit bzw. Musiktherapie einzulassen. Aber auch für MusikerInnen ist dieser psychointegrale Anteil der Methode spannend: denn auch wenn wir vorwiegend an der Stimmfunktion arbeiten, kann es auch dem besten Sänger einmal bei Auftrittsängsten eng in der Stimme werden oder die Stimme erreicht nicht ihre Bestform, wenn man gerade mit einem Mitmenschen Streit hat. Auch hier hilft die Stimme als Wegweiser, Probleme zu lösen und damit auch die Stimme wieder zu befreien!
Funktionales Stimmtraining & Lichtenberger Methode als Vorläufermethoden der Stimmig-sein-Methode®
Die Stimmig-sein-Methode® hat ihre Wurzeln in der Funktionalen Methode nach Gisela Rohmert (auch Lichtenberger Methode) und dem Funktionalen Stimmtraining (Cornelius Reid, Eugen Rabine, Peter Jacoby und andere). Der Grundgedanke für ein funktionales Stimmtraining stammt von dem Amerikaner Cornelius Reid. Dieser war der Lehrer von Eugen Rabine. Eugen Rabine wurde in den USA geboren und brachte den funktionalen Ansatz in den achziger Jahren in die Arbeitsgruppe um Professor Dr. Walter Rohmert ein. Professor Dr. Walter Rohmert war Professor für Arbeitswissenschaften. Das Ziel der Arbeitsgruppe um Professor Rohmert war es, herauszufinden, welche Herangehensweisen es ermöglichen, als Sänger oder Sängerin ein Leben lang eine gesunde Stimmfunktion zu erhalten. Die Veröffentlichung dieser Arbeitsgruppe „Grundzüge des Funktionalen Stimmtrainings“ und zahlreiche Doktorarbeiten und Symposiumsberichte entstanden, wie man die Stimme differenziert trainieren könnte. Gleichzeitig wurde das Lichtenberger Institut für Gesang und Instrumentalspiel gegründet. Hier wurden die Erkenntnisse zunächst an einer kleinen Anzahl von Schülern erprobt. Schließlich entstand ein Seminarhaus. Das Funktionale Stimmtraining unter Eugen Rabine spaltete sich dann vom Lichtenberger Institut ab. Gisela Rohmert, die Ehefrau von Prof. Walter Rohmert, selbst Konzertsängerin, hatte im Gegensatz zu Eugen Rabine den Klang und das Hören auf den Klang als zentrales Steuerungselement der Stimme entdeckt. Sie stellte eine systemische Theorie der Selbstorganisation der Stimme über das Hören von Gesangsformanten und Vibrato auf, über das Uta Feuerstein in ihrem Buch „Stimmig sein“ im Jahr 2000 eine gute und vor allem verständliche Zusammenfassung geschrieben hat.
Als Methodengründerinnen der Stimmig-sein-Methode®, die wir beide 10 Jahre die Lichtenberger Methode erlernt haben, sahen wir aber bei beiden Ansätzen Schwächen. So fehlt im Funktionalen Stimmtraining der systemische Grundgedanke bzw. er wird nicht genug erkennbar. Ziel des Funktionalen Stimmtrainings ist es, eine möglichst reflexhafte, „schöne Stimme“ zu erreichen – wie diese genau sein sollte, wird zu wenig spezifiziert.
Hier hat Gisela Rohmert mit dem Ansatz der systemischen Ordner „Gesangsformanten“ (Brillanz) und Vibrato einen wichtigen Schritt getan, um das Ziel, eine „schöne Stimme“ anzustreben, nicht der Geschmacksbeliebigkeit und der Mode zu unterwerfen. Bei Gisela Rohmert wurde mit den Jahren jedoch der ursprünglich wissenschaftliche Ansatz, die Genauigkeit im Umgang mit Anatomie und Physiologie immer mehr verwässert. Vielfach werden Wirkzusammenhänge im Körper aufgrund von Ähnlichkeiten im Aussehen eines Körperteils anstatt von nachvollziehbaren Erklärungsansätzen wie zum Beispiel Muskelschlingen usw. erklärt. Dies kritisiert Uta Feuerstein bereits im Buch „Stimmig sein“ im Bereich der Erklärung der von Rohmert beschriebenen „Diaphragmenkette“.
Daher haben wir in der Weiterentwicklung der Methode zur Stimmig-sein-Methode® viel Wert auf wissenschaftlich nachvollziehbare Erklärungsmodelle und eine ebenso ausgerichtete nachvollziehbare Stimmpädagogik geachtet. Wir haben aufgrund dieses Herangehens viele neue funktionale Übungen entwickelt, welche in den Ursprungsmethoden fehlen.
Hinzu kam natürlich der psychologische Aspekt. Der Name Stimmig-sein-Methode® wurde von uns gewählt, weil wir einen entscheidenden weiteren Stimmordner entdeckt haben: die Eigenmacht. Die Eigenmacht stellte sich als übergeordneter systemischer Ordner heraus: Denn wenn ein Mensch sich bedroht fühlt, wird die Schutzfunktion des Kehlkopfs immer die Stimmfunktion dominieren. Daher ist es wichtig, die Eigenmacht zu stärken, um die Stimme zu befreien.